04. Mär 2019
Da sind diese beiden Mädchen. Greta aus Stockholm und Greta aus Berlin. Sie sind so verschieden, wie Teenager nur sein können. Ihre Gemeinsamkeiten: Ihr Vorname, das Alter, die langen Haare. Und das Thema Unterrichtsausfall – aus völlig unterschiedlichen Perspektiven.
Greta Thunberg. Ihr Herzensthema ist die Zukunft der Erde und der Klimawandel, der das Leben von Tier und Mensch massiv verändern wird. Diese Zukunftsaussicht macht ihr Angst. Kein Tag vergeht, an dem die 16jährige nicht eine ihrer scharf formulierten Botschaften an die verantwortlichen Politiker in die Welt hinaus sendet: Stoppt den Klimawandel, hört auf die junge Generation, runter vom Sofa! Seit August vergangenen Jahres geht Greta an Freitagen nicht in die Schule, sondern demonstriert vor dem schwedischen Parlament.
Anfangs war sie alleine, mittlerweile ist sie zu einer Ikone einer neuen Jugendbewegung geworden. „Fridays for future“ ist mittlerweile eine weltweite Bewegung geworden, jede Woche gehen hunderttausende Jugendliche mittlerweile weltweit auf die Straße. Greta nutzt die Gelegenheiten, vor Entscheidern aus Politik und Wirtschaft zu sprechen. So zum Beispiel im Dezember bei der UN-Klimakonferenz und im Januar beim Weltwirtschaftsforum.
Im Februar folgte ein Besuch beim Europäischen Wirtschafts- und
Sozialausschuss, wo sie sagte: „Wir können nicht einfach herumsitzen
und darauf hoffen, dass sich etwas ändert. Wenn ihr das tut, verhaltet
ihr euch wie verwöhnte und verantwortungslose Kinder. In eurem
politischen System geht es nur um den Wettbewerb. Ihr betrügt, wo ihr
nur könnt. Denn alles, was zählt, ist zu gewinnen, mächtiger zu werden.
Damit muss Schluss sein. Wir müssen aufhören, miteinander zu
konkurrieren. Wir müssen zusammenarbeiten und die Ressourcen des
Planeten fair miteinander teilen.“
Das klingt selbstbewusst,
kämpferisch und so erstaunlich erwachsen, dass manche Menschen der
Jugendlichen unterstellen, sie sei fremdgesteuert und manipuliert, eine
Marionette einer Person im Hintergrund oder gar ihrer Eltern.
Greta Thunberg ist Asperger-Autistin. Menschen mit Asperger-Syndrom entwickeln häufig eine grammatikalisch und stilistisch ausgefeilte Sprache. Hoch- oder Inselbegabungen können Teil der Persönlichkeit sein. „Aspis“ sind zurückhaltende Menschen, die in der sozialen Interaktion anders agieren als die meisten anderen: wenig emotional, also nicht überschwänglich herzlich und auch nicht persönlich verletzend. Rational, klar und deutlich. Die junge Aktivistin sagt von sich, sie spreche nicht gerne mit Menschen.
Für Menschen wie Greta Thunberg ist es vollkommen logisch, gegen eine erkannte Ungerechtigkeit, für eine erlangte Überzeugung und natürlich gegen den kommenden Klimawandel vorzugehen. Alles andere wäre ja auch nicht sachlich begründbar. Und so sitzt sie seit Monaten in Schweden vor dem Parlamentsgebäude jeden Freitag mit ihrem Pappschild, auf dem sie auf ihren „Schulstreik für das Klima“ hinweist.
Zehntausende Schüler sind es mittlerweile weltweit, die ihr folgen. Paris, London, Barcelona, Berlin, München, Brüssel, New York… Jede Woche werden es mehr. Greta Thunberg hat eine neue Jugendbewegung initiiert.
Auch in Berlin gehen mittlerweile jeden Freitag Schüler auf die Straße. Greta, 16 Jahre alt, Schülerin der 11. Klasse, gehört nicht dazu. „Greta wer?“ Ihre gleichaltrige Namensvetterin aus Schweden ist ihr kein Begriff.
Möglicherweise tragen die unterschiedlichen Filterblasen dazu bei, dass die beiden Gretas in Paralleluniversen leben. Die eine Introvertierte hat Twitter als Sprachrohr entdeckt, wo ihr mehr als 230.000 Menschen folgen. Die andere hat sich unter Pseudonym bei Instagram angemeldet, mit einigem Interesse folgt sie dort beispielsweise Menschen, die sich mit Aquaristik beschäftigen.
Greta ist auch sonst anders als Greta.
Die Berlinerin ist die Jüngste von insgesamt 5 Geschwistern, umgibt sich
gerne mit ihren Freundinnen und lacht viel und gerne. Auf einer Demo
war sie noch nie.
Neulich hat sie eine Entdeckung gemacht, die ihre
demonstrierenden Schulkamaraden interessieren könnte – aber da sich die
virtuellen Wege nicht kreuzen…
Es geht um das zweite Schulhalbjahr, das erstaunlich kurz ist. Ferien, Feiertage, Ferien. Dazwischen schulfrei wegen Prüfungen. Und dazwischen Unterrichtstage. Drei Wochen vor den Sommerferien ist Notenschluss, und Gretas größte Sorge ist: Das wird verdammt eng mit den Tests und Klausuren, und es wird sicher anstrengend.
Gretas Rechnung könnte für die demonstrierenden Jugendlichen ebenfalls interessant sein, denn zumindest die Oberschulen mit gymnasialer Oberstufe haben die MSA- und Abiturprüfungen gemeinsam. An Gretas Schule fallen dafür 10 Unterrichtstage aus. Zeugnisse müssen auch überall geschrieben werden. Dass nach den Notenkonferenzen nicht mehr viel stattfindet außer Klassenfahrten und Projekttage, dürfte auch überall ähnlich sein.
Im zweiten Schulhalbjahr gibt es insgesamt 13 Freitage, an denen Unterricht stattfindet, wenn Lehrer nicht wegen Krankheit, Fortbildung oder aus anderen Gründen fehlen. Ziehen wir die drei Freitage ab, die nach der Notenkonferenz stattfinden, bleiben 10. Das Programm der letzten drei Wochen vor den Sommerferien, seien wir ehrlich, besteht aus Klassenfahrten, Studienreisen, Sommerfesten, Projektwochen… Oft genug gibt es auch ein bescheideneres Programm, das mit dem Bildungsauftrag der Schule wenig zu tun hat: Filme anschauen, aufräumen, putzen, abhängen… Unterricht findet jedenfalls kaum noch statt.
10 Ausfalltage durch Prüfungen. An (mindestens) 10 Tagen ist dem Staat das Recht auf Bildung völlig wumpe: Die Schulen dürfen während der Prüfungstage die Kinder ohne konkrete Arbeitshinweise oder Aufgabenstellungen lassen. Der Unterricht fällt ersatzlos – und kommentarlos – aus. Stillschweigendes Hinnehmen wird erwartet. Protest gegen teilweise massiven Unterrichtsausfall läuft regelmäßig ins Leere, Generationen von Eltern haben sich daran schon die Zähne ausgebissen und frustriert feststellen müssen: ein (einklagbares) Recht auf Unterricht gibt es nicht.
10 Streiktage. Wenn Jugendliche den zivilen Ungehorsam entdecken und sich für wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel, für nachhaltigen Konsum, ressourcenschonende Ökonomie und damit für ihre eigene Zukunft einsetzen, wird das mit Strafe belegt. Der Maßnahmenkatalog für’s „Schule schwänzen“ umfasst ein Bündel vom Vermerk unentschuldigter Fehltage im Zeugnis bis zur Verhängung von Bußgeld.
Plötzlich wird wichtig, was vorher legitimiert wurde – das Recht auf Bildung gilt im Zweifel weniger als die Erfüllung der Schulpflicht. Die weitere Botschaft: Was nicht im Lehrplan steht, ist für uns, die Schule, nicht relevant. Ihr engagiert euch – dann tut das in eurer Freizeit. Ihr habt existentielle Sorgen – wir sind nicht zuständig. Ihr wollt mehr wissen – das ist im Moment nicht „dran“. Ein fatales Signal an die junge Generation. Schülerinnen und Schüler leben in einem Staat, der seine Macht nicht dazu nutzt, ein zuverlässig funktionierendes, hochwertiges Bildungsangebot bereitzuhalten. Der sie bestraft, wenn sie tun, was in der ach so wichtigen Unterrichtszeit nicht vorkommt: Engagement, Zivilcourage, Zukunft gestalten.
Greta Thunberg sagt dazu: „…Und denjenigen, die sagen, wir würden wertvolle Schulzeit vergeuden, soll gesagt sein: Unsere politischen Führer haben Jahrzehnte durch Leugnen und Nichtstun vergeudet. Und wenn ihr meint, dass wir besser in der Schule sein sollten, dann schlagen wir vor, dass ihr streikt und für uns auf die Straße geht. Oder noch besser, schließt euch uns an, damit wir den Prozess beschleunigen können.“
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