„Starke Mädchen“ in der Kinderliteratur tragen Hosen und verzichten auf Nagellack, sie glitzern nicht, sind aber trotzdem sanft und nett – und total angepasst. Die rauen, hölzernen, schrägen, die unsympathischen Mädchen, die ihre Macht missbrauchen: Sie sind selten. Schulbibliothekarin Diana Johanns hat zwei ältere Bücher über unangepasste Protagonistinnen entstaubt und noch einmal gelesen.
Sie sind inzwischen ein eigenständiger Topos, die sogenannten "Starken Mädchen" in der Kinderliteratur und die Nachfrage scheint so gewaltig wie die Kaufempfehlungen üppig sind. Es sind Mädchen, die sich was trauen, Mädchen, die sich den Normen widersetzen, Mädchen, die „Mädchensachen“ verachten und „Jungensachen“ machen, die keine rosa Kleider tragen, keine Prinzessin sein wollen und die ihren Traum verwirklichen. Häufig sind es aber nur die alten Geschichten unter neuer Überschrift und "Starke Mädchen" machen dann doch einfach nur einen Ausflug mit ihren Ponys. Oder gehen allein in den Kindergarten. Und zum Ballett.
Wer nach Literatur über Starke Mädchen sucht, findet in
erster Linie Biografien. Diese müssen nur nachbeschreiben, was bereits
geschehen ist, während fiktive Geschichten gezwungen sind, Mädchen zu
präsentieren, die zwar unangepasst, aber trotzdem einnehmend sind. Nun,
Starke Mädchen im Kinderbuch glitzern nicht und wollen vielleicht auch
keinen Nagellack tragen und tun Dinge, für deren Bewältigung sie zuerst
eigene Ängste überwinden müssen. Trotzdem sind sie alle gute Mädchen,
hilfsbereit, sanft, mitfühlend, brav. Brav und angepasst. Wo bleiben die
Unartigen, Unangepassten?
Wo sind sie, die Starken Mädchen, die
ihre Kraft dafür nutzen, um andere zu unterdrücken und nicht, um ihnen
in der Not zu beizustehen? Die auf gutes Benehmen und Mitgefühl pfeifen?
Die durchs Leben und über die Gefühle anderer hinwegstiefeln?
Nun, zwei dieser Markigen Mädchen haben es zu Titelheldinnen gebracht, und die möchte ich gern vorstellen.
von Rosel Klein aus dem Jahr 1981 ist vermutlich eines der bekanntesten Kinderbücher der DDR und die Grundlage für den beliebten gleichnamigen DEFA-Film.
Tilla hat helle glatte Haare, blau blitzende Augen und ist groß und dick. Viel zu groß ist die. Viel zu dick. Findet Anne, der zarte, kraushaarige, bebrillte, langwimprige und verträumte Neuzugang der Klasse. Anne ist genau das, was Tilla nicht leiden kann, und umgekehrt wird genauso empfunden. Pech für Anne, dass Tilla die Chefin der Klasse ist und diesen Vorteil gnadenlos ausspielt. Für ihre Vormachtstellung nutzt Tilla ihre Intelligenz und ihre Körperstärke, kann aber auch mit Sachlogik ihre Mannen überzeugen: „Wir sollen ein gutes Kollektiv sein. Ein Klassenkollektiv. […] Man kann nur’n richtig gutes Kollektiv sein, wenn man einen hat, gegen den man sich verbünden kann.“ Im Kollektiv wird Anne nun gemobbt, doch sie zeigt sich unbeugsam, rettet sich in ihre Träume. Zum Schluss des Buches geraten beide in eine gefährliche Situation und kommen sich näher.
Beim Wiederlesen des Buches fällt auf, wie wenig beschönigend es in dieser Geschichte zugeht. Ein Kind wird gemobbt und alle Hüter des Friedens im Klassenraum – Lehrer, Eltern und Gruppenratsvorsitzende sehen weg. Natürlich wird Tilla zur Ordnung gerufen, nachdem sie Anne verprügelt und deren Fahrrad kaputtgetrampelt hat, doch ein Verweis auf den Vater reicht, um den Lehrer umzustimmen und nicht daheim vorstellig zu werden – immerhin hat dieser Vater bereits das helfen wollende Elternaktiv vor die Tür gesetzt. Tilla dankt es, indem sie die Klasse auf Anne hetzt.
Ist Tilla ein starkes Mädchen? Auf alle Fälle ist sie ein Mädchen, das auch als Mädchen gefallen will. So sitzt sie an einem Morgen müde in der Klasse, weil sie in der Nacht wegen all der Lockenwickler nicht schlafen konnte. Aber was tut man nicht alles, um am nächsten Morgen „neu und schön“ auszusehen? Und obgleich die kleinen Löckchen Tilla nicht schmücken, lacht niemand. Tilla reicht ihr Poesiealbum herum und lässt sich von ihrem Freund Knutschi zum Eis einladen. Niemand spottet. Und auf dem Einband der von Regine Röder gestalteten Ausgabe sehen wir sie in einem Gymnastikanzug und farblich passenden Strümpfen ihren Expander auseinanderzerren, Tilla ist ihr Äußeres keinesfalls egal. Sie ist auch nicht dumm. So entspannt, wie sie Knutschis Pluralbildung korrigiert, so mühelos versteht sie es, Erwachsene und Kinder für ihre Pläne zu begeistern. Die einzige Gegnerin für dieses Mädchen ist ein anderes starkes Mädchen – Anne. Anne, die Einserschülerin, Anne, die ebenfalls einen Verehrer in der Klasse gefunden hat, Anne, das Einzelkind, mit einer Mutter, die zuhört und Anne, die es versteht, sich in schwierigen Situationen in eine Traumwelt zu flüchten.
Doch Anne kann sich auf ein stabiles Elternhaus stützen, dies fehlt Tilla. Sie wiederum wird von ihren älteren Zwillingsbrüdern schikaniert, ihr Vater gibt sich autoritär, die Mutter lebt mit den jüngeren Geschwistern woanders. Von Tilla wird verlangt, für Vater und Brüder den Haushalt zu schmeißen, dieser Rolle zu entkommen, dafür reicht Tillas Stärke nicht. Nur, in ihr zu leben und auf eine bessere Zukunft zu hoffen.
1996 wurde das Buch überarbeitet neu herausgegeben. Der Neuausgabe
fehlen nicht nur die grotesk-naiven Illustrationen von Regine Röder, die
in ihrer Sepiatonung wunderbar die Traumbilder Annes und die regennasse
Stimmung des Buches eingefangen haben.
Verzichten muss man auch auf
DDR-typische Dinge, es fehlt der Pio-Nachmittag, die
Gruppenratsvorsitzende, das Kollektiv wird zum Team, statt eines Tadels
und einen Rechenschaftsbericht vor dem Gruppenrat gibt es einen
Verweis, statt Kosmonauten streikende Lehrer, statt Friedenstauben
werden Sonnenblumen aus Papier an die Schulfensterscheiben geklebt. Und
statt nach (Waffel)-Tüten für das 20 Pfennig-Fruchteis (eine genauere
Angabe der Fruchtsorte war unnötig), fragt Tilla nach Berberitzen- und
Passionsfruchteis. Gibt aber nur Himbeere. Hinzugekommen ist in der
Neuausgabe ein kleiner literarischer Scherz (Anne möchte den Handschuh
von Friedrich Schiller rezitieren) und ein Dutzend zusätzlicher Sätze am
Ende. Wer sich erinnert: Im Original endet die Geschichte mit einem
Bild, auf dem Tilla und Anne einander die Arme um die Schultern legen
und Luftballons halten, als Zeichen, dass es in der Zukunft
freundschaftlicher zwischen den beiden zugehen würde, 1996 streiten sie
noch ein bisschen weiter.
Natürlich lebt die (1996 veränderte und
neu herausgegebene) Originalausgabe von den Erinnerungen an eine
Lesekindheit in der DDR. Doch abgesehen davon ist es immer noch ein
großartiges Kinderbuch zum Thema Mobbing und deren Grundbedingungen und
Auswirkungen. Und es ist ein Buch über zwei starke Mädchen,
beachtenswert deshalb, weil die Idee der Autorin, zwei Archetypen
potentieller Mobbingopfer – ein dickes Mädchen und eine verträumte
Streberin – als kraftvolle Gegnerinnen einander gegenüberzustellen,
unüblich ist.
Die dicke Tilla
Rosel Klein
1981 illustriert von Regine Röder
1996
jeweils im Kinderbuchverlag Berlin
ab 8 Jahre
Dass Mobbing häufig seine Ursache im Familienleben hat, zeigt sich an unserem zweiten Buch:
In
dem Bilderbuch von Heidrun Petrides wird schon auf dem Einband
klargestellt: „Alle sagen: Anna ist die Größte! Alle machen, was Anna
sagt. Auf Michi hört keiner. Er sagt auch nichts.“
Obwohl Anna und
Michi in einer Straße wohnen, kennen sie sich nicht, weil Michi nie auf
die Straße zum Spielen darf – zu gefährlich. Doch dann werden alle
Kinder der Straße aufs Land geschickt. In einem Ferienhaus angekommen,
vergnügen sie sich mit Dingen, die Kinder gern im Freien tun, bis auf
Micha, der am Tisch sitzt und zeichnet – bis Anna den Befehl erteilt,
dass alle zusammen in den Wald gehen. Und weil alle Kinder finden, dass
Anna nicht nur groß und stark ist, sondern auch immer tolle Einfälle
hat, folgt die ganze Herde. Anna klettert auf einen Baum, Michi lieber
nicht. Anna verweigert Michi einen Zug aus der Friedenspfeife, tja, was
soll Michi machen? Michi ist wütend, Anna zeigt ihre Faust. Michi droht,
Anna lacht herzlich. Und dann lässt Anna die Kinder allein im Wald, um
sich mit Stefan als Comanchin an die Cowboys zu pirschen. Weg sind sie
und die Kinder sitzen folgsam im dunklen Zelt, bis Anna zurückkommt und
sie rettet. Gemeinsam schleichen sie durch den Wald, bis es kracht und
eine große, dunkle Gestalt an ihnen vorbeifliegt. Alle haben Angst und
Anna rennt weg. Lässt die Kinder zurück im dunklen Wald, die sich allein
ins Ferienhaus zurückschlagen. Als Michi bei der Rückkehr Anna als
Flasche bezeichnet, kracht es, die Kinder prügeln sich. Doch in der
Nacht beginnen alle, von daheim zu erzählen, von fehlenden Vätern,
überforderten Müttern und streitenden Eltern. Und die Kinder
beschließen, daheim dafür zu sorgen, dass alle Familien Zeit miteinander
verbringen.
Was
das Buch so liebenswert macht, ist nicht allein die Geschichte, in der
ohne großes Getue gestritten, gehauen, ausgesprochen und vertragen wird.
Nein, es sind die Bilder, die uns eine Großstadtkindheit in West-Berlin
vor vierzig Jahren zeigen. Bilder, auf denen Kinder ohne
Aufsichtspersonen durch die Straßen stromern, im Springbrunnen baden
oder zu dritt auf einem Fahrrad fahren. Und alle ohne Helm.
Es waren
die ausdrucksstarken Illustrationen ihres Erstlingswerks: Xaver und
Wastl, die die Verlegerin Bettina Hürlimann sofort für Heidrun Petrides
einnahmen. Deren Eltern waren 1961 von Hamburg nach Zürich gereist, um
Hürlimann das Bilderbuch ihrer 14jährigen Tochter vorzustellen und diese
griff "in einem Anfall von Mut" beherzt zu. Der Mut wurde belohnt, das
Bilderbuch über zwei Münchner Jungen, die sich in einer alten Bauhütte
ein Zuhause einrichten, war eines der beliebtesten Bücher des Atlantis
Verlages und erscheint bis heute.
Hürlimann widmete Petrides Schaffen ein eigenes Kapitel in ihrer Autobiografie. Sie schrieb lobend über deren weiteren Lebens- und Schaffensweg und ihren hohen und fortschrittlichen Erziehungsideale und wünscht sich, Petrides möge ihren Humor „unbelastet von ihren politischen Idealen" durchbrechen lassen und „den Kindern ein wahrhaft vergnügliches Bilderbuch" schenken. Mit Anna hat Heidrun Petrides dies getan. Sie arbeitete damals im Kinderladen Olle Burg in Berlin und hat sich mit den Kindern die Geschichte zusammen ausgedacht und ihnen auch das fertige Buch gewidmet. Hürlimann hatte über Petrides Können von einem „kleinen modernen Breughel" gesprochen, das Bild am Ende der Geschichte gibt der großen Verlegerin recht: die pralle Lebenslust und Detailfreudigkeit huldigt dem Flamen, doch schmiegt sich auch Zilles Tänzerpaar durchs Bild, als Reverenz an ihre damalige Wahlstadt.
Aber ist Anna ein starkes
Mädchen? Naja, raten Sie mal, wer beim Zirkusspielen die Hantel stemmt?
Die Scheiben im Bus bemalt? Und beim Familienpicknick rauft? Wer der
Mutter von Michi sagt, dass er auch mal raus und auf den Spielplatz
darf? Im bestimmenden Ton? Die Anna!
Anna der Boss und Michi die Flasche
1. Auflage 1980
geschrieben und illustriert von Heidrun Petrides
Herold Verlag, 1980
ab 6 Jahre
Unsere Autorin Diana Johanns hat Bibliothekswissenschaften, Literatur und Geschichte studiert und arbeitet seit 2018 als Schulbibliothekarin in der Schöneberger Sternberg-Grundschule. Die Liebhaberin gedruckter Seiten ist 45 Jahre alt, hat zwei Kinder im Grundschulalter und nur zwei Passionen: Bücher und Schokolade.