Quereinsteiger im Brennpunkt: warum Lehrer protestieren

21. Aug 2018

Daniela von Treuenfels
Quereinsteiger im Brennpunkt: warum Lehrer protestieren

Mangel ist immer konkret: In einem Schreiben an die Senatsverwaltung machte das Kollegium der Sonnen-Grundschule in Neukölln bereits im Frühjahr auf die besonderen Herausforderungen in der Arbeit an diesem Schulstandort aufmerksam. Zu Beginn des Schuljahres gab es eine Protestaktion.

Wir dokumentieren den Brief im Wortlaut, siehe unten. In einem weiteren Schreiben vom Mai heißt es ergänzend: "Was wir in unserem Schreiben bemängeln, sind die personelle Unterausstattung von zeitweise nur 83%, die damit verbundene regelmäßige Auflösung von Teilungs-, Integrations- und Sprachförderstunden und der hohe Krankenstand (im Schuljahr 16/17 gab es an unserer Schule in knapp 24% aller Schulstunden Vertretungsunterricht) sowie die damit verbundene Mehrbelastung der verbleibenden Erzieherinnen und Lehrkräfte."

Die Bildungsverwaltung hat offenbar auf diese Kritik nicht reagiert: Von den neuen Lehrkräften, die zum beginnenden Schuljahr an die Sonnen-Grundschule kamen, sind die Hälfte Quereinsteiger, bemängelt die Schule. Deshalb hat das Kollegium am 17. August eine Protestaktion vor dem Sitz der Bildungsverwaltung veranstaltet.

Quereinsteiger und fachfremder Unterricht: was Eltern dazu wissen müssen und tun können, lesen Sie hier.


Sonnen-Grundschule, 09.04.2018

Sehr geehrte Frau Senatorin Scheeres,

wir wenden uns mit diesem Brief an Sie, um Ihnen zu verdeutlichen, dass die brisante Situation an unserer Schule Ihr Handeln dringend erforderlich macht. Wir arbeiten in einer der ärmsten Nachbarschaften Neuköllns, die in allen Sozialstatistiken einen der negativen Spitzenplätze belegt. Alle Probleme von denen Sie aus den Brennpunkten dieser Stadt hören, treffen in besonders dramatischer Weise gerade auf unseren Kiez zu – wir brauchen sie hier nicht nochmals ausführen.

Wir stellen uns diesen Herausforderungen seit Jahren und üben unseren Beruf in dem Bewusstsein und mit der Motivation aus, hier gerade den Bedürftigsten unserer Gesellschaft eine Stütze im Start in ihr Leben und in ihre schulische Laufbahn zu sein. Die Schwierigkeiten, die Kinder aus bildungsfernen Familien häufig in die Schule mitbringen, sind Ihnen bekannt und bedürfen ebenfalls keiner nochmaligen Ausführung.

Wir haben für diese Situation in gemeinsamer Verantwortung von Lehrer*innen, Erzieherinnen und Eltern vielfältige pädagogische und organisatorische Anpassungen im Lehrplan und im Schulleben entwickelt, die das ganz spezifische miteinander Leben und Lernen an unserem Standort erst ermöglichen. Jeder dieser Schritte ist mit zusätzlichem individuellen Arbeitsaufwand aller an der Sonnen-Grundschule tätigen Menschen verbunden. (Koop soziale Einrichtungen, Mediation, veränderter Stundenplan, aktive Pause, Trainingsraum, Koop Schule-Hort, Treffen mit Psychologen und Therapeuten, der Polizei, dem Jugendamt, Schulhilfekonferenzen, Teamsitzungen…) Einige dieser Anpassungen wurden durch das von Ihnen eingeführte BuT und das Bonusprogramm ermöglicht, für das wir sehr dankbar sind.

Aber auch Ihre Behörde führt immer wieder wohlmeinende „Neuerungen“ ein, die unsere Arbeitsbelastung weiter erhöhen. Sie erfordern von uns zeit- und arbeitsaufwändige Anpassungs-, Abwägungs- und schließlich auch Abwehrprozesse (siehe: flächendeckende Einführung von JÜL, das wir für unsere Schülerschaft von Anfang an als unpassend erkannten).

Auch eine unbegrenzte und alternativlose Integration von verhaltensauffälligen oder lernbehinderten Kindern kann unter unseren Bedingungen nicht gelingen. Was schon bei der Sprachbildung in unseren Klassen ein enormes Problem darstellt, kann im sozialen Lernen noch weniger gelingen: wenn es oft nur ein positives Vorbild für die Kinder gibt – der/die Lehrer/in oder die Erzieherin! Von den bei der Einführung solcher Maßnahmen versprochenen zusätzlichen personellen oder materiellen Hilfen kommt im konkreten Schulalltag so gut wie nichts an, bzw. wird zur Kompensation des hohen Krankenstand verwendet oder wegen Raummangels (auf den wir in unserem letzten Schreiben an Sie hingewiesen haben) gleich ganz unrealisierbar.

Hinzu kommt, dass in Neukölln „die Latte einfach höher hängt“: bevor hier ein Kind als besonders förderungsbedürftig eingestuft wird, bevor hier eine Sprachstörung oder Entwicklungsverzögerung erkannt wird, bevor hier das Jugendamt konkrete Schritte zur Unterstützung von belasteten Familien unternimmt, muss es schon sehr aus der Masse der kaum weniger gefährdeten Mitschüler*innen herausragen. Und um wenigstens diesen extrem von Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, Lernstörungen, Schulversagen… bedrohten Kindern beizustehen, müssen wir Unmengen von Formalitäten bewältigen, Konferenzen abhalten, Gespräche führen, die NICHTS mit unserem Lehrauftrag zu tun haben, für den wir eigentlich mal ausgebildet wurden oder noch ausgebildet werden.

Und jetzt versetzen Sie sich bitte kurz in die Lage einer Quereinsteigerin oder eines Lehramtsanwärters, der das „normale“ Unterrichtshandwerk erst lernen soll. Wir halten es für fahrlässig, angehende Lehrer*innen an so belasteten Schulen wie der unseren auszubilden – es ist weder in ihrem noch in unserem Interesse. Denn wieder landet das Problem bei den „Langzeitbelasteten“. Sie sollen nebenbei – nein obendrauf! – den jungen Kolleg*innen das Handwerkzeug und die Freude am künftigen Beruf vermitteln, obwohl sie selbst kaum eine freie Minute in unserem Arbeitstag finden. Bisher ist uns das durch einen besonderen kollegialen Zusammenhalt trotz allem oft gelungen, aber der hohe Krankenstand auch unter den neuen Kolleg*innen, lässt vermuten, dass auch an ihnen die extreme Arbeitsbelastung nicht spurlos vorbeigeht.

Bei aller Motivation müssen wir feststellen, dass die Schwierigkeiten in den letzten Jahren weiter zunehmen und unsere Kräfte überfordern. Wir wollen unsere Arbeit gut und gewissenhaft ausführen und fühlen uns verantwortlich für die uns anvertrauten Kinder. Das „normale“ Unterrichten von 28 Wochenstunden, die Vor- und Nachbereitung, die regulären Konferenzen, Elternkontakte – nach dem unsere Arbeitszeit berechnet ist und für das wir eigentlich bezahlt werden - laufen aber „nebenher“, oft werden sie sogar vernachlässigt, weil anderes dringender ist oder uns dafür einfach die Kraft fehlt.

So wollen und so können wir nicht mehr arbeiten. So kann Inklusion nicht funktionieren. So wird vielen Kindern das Recht auf einen guten Start ins Schulleben genommen. So werden die Kolleg*innen krank. Im Übrigen: persönliche Gespräche mit der Schulleitung, der übliche Prozess bei Überlastungsanzeigen, ändern nichts an unserer Lage und sind untauglich, weil sie die Ursache des Problems nicht beheben.

Daher fordern wir:

♦ eine deutliche Reduzierung der Pflichtstundenzahl auf 20 Stunden Unterrichtsverpflichtung, 2 Entlastungsstunden zur Einarbeitung/Betreuung von Quereinsteiger*innen und Lehramtsanwärter*innen, 2 Stunden Klassenleitertätigkeit, 1 Stunde Teamsitzung!
♦ Beibehaltung kleiner Klassenfrequenzen (unter 20 Kinder je Klasse)!
♦ mehr personelle und qualifizierte Unterstützung im inklusiven Unterrichtsalltag!

Mit freundlichen Grüßen
Kolleg*innen der Sonnen-Grundschule

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