Forschungsprojekt: Was passiert in der Schulmensa?

20. Nov 2018

 Forschungsprojekt: Was passiert in der Schulmensa?

Standards, Preise, Caterer, Bioanteil… - das Schulessen ist hinlänglich ausdiskutiert, sollte man meinen. Aber was passiert eigentlich beim Essen? Wie verhalten sich Kinder und Erwachsene bei den Mahlzeiten? Wie geht es in den Grundschulen zu, wie interagieren Jugendliche? Unsere Gastautorin Lotte Rose von der Frankfurt University of Applied Sciences hat mit Rhea Seehaus und einer Projektgruppe dazu geforscht und ein Buch darüber geschrieben.

von Lotte Rose

Das Schulessen steht unter öffentlicher Beobachtung, seit immer mehr Kinder in Deutschland mittags in der Schule verköstigt werden. Regelmäßig gibt es skandalisierende Medienmeldungen zu Preisdruck, schlechter Gesundheits- und Geschmacksqualität der Verpflegung, geringen Nutzungszahlen und Kritik an der Versorgung durch industrielle Groß-Caterer. Erst im Frühjahr dieses Jahres kam es in Frankfurt am Main zum öffentlichen Schüler-Aufstand, als in einer Schule ein kleiner Gastronomie-Betrieb, der dort jahrelang zur Zufriedenheit aller gekocht hatte, durch den weltweit agierenden Konzern Sodexo ersetzt wurde. Gleichzeitig sind staatlicherseits die Bemühungen groß, die Verpflegungsqualität zu optimieren und Schulverpflegung als Gesundheitserziehungsmaßnahme zu nutzen.

Qualitätsstandards für Menüpläne und Küchenhygiene sind von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung definiert, Vernetzungsstellen für Schulverpflegung in den Bundesländern sollen Schulen bei der Umsetzung helfen. 2016 richtete das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft das Nationale Qualitätszentrum für Ernährung in Kita und Schule (NQZ) ein, das koordinierende und beratende Aufgaben für die Gemeinschaftsverpflegung in pädagogischen Einrichtungen auf Bundesebene hat. Flankierend dazu erfassen ernährungswissenschaftliche Evaluationsstudien mit standardisierten Instrumenten fortlaufend Rahmenbedingungen, Gesundheitsqualität und Kundenzufriedenheit des Schulessens. Charakteristisch ist bei der derzeitigen medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion zum Schulessen, dass erwachsene Expertinnen und Experten diverser Disziplinen und Interessensfraktionen verhandeln, wie das Schulessen idealerweise sein sollte. Wenig Aufmerksamkeit gibt es jedoch bislang dafür, was das Schulessen eigentlich für junge Menschen bedeutet.

Was erleben Schülerinnen und Schüler in der Mensa, wie eignen sie sich diesen Raum an und wie ‚bespielen‘ sie ihn, was tun sie miteinander und mit den Speisen und welche Rolle spielen bei alledem die erwachsenen Fachkräfte? Diesen Fragen ging das Forschungsprojekt „Doing Gender und Doing Diversity am Mittagstisch. Eine Untersuchung von Verpflegungssituationen in pädagogischen Einrichtungen“ nach.

Schulmensa als Ort eigensinniger Jugendkultur

An sechs Schulstandorten wurden teilnehmende Beobachtungen des Mittagessens durchgeführt und ethnografisch dokumentiert. Darunter waren Versorgungssettings der Mensa, aber auch des betreuten Essens in Gruppen, wie es für die ersten Klassenstufen verbreitet ist. Ziel war, den profanen Praxisalltag empirisch zu erfassen und das akribisch zu beschreiben, was sich in den Verpflegungssituationen als soziale Routinen vollzieht. Getragen war dieser Blick von der kindheitstheoretischen Idee, dass es sich beim Schulessen um einen Schulraum handelt, der, wie Klassenzimmer, Schulhof, Flure, Toiletten und Umkleiden und Schulbushaltestelle, ein Ort von eigensinniger Kinder- und Jugendkultur ist. Schülerinnen und Schüler versuchen hier wie an den anderen Schulorten auch, ihr ‚eigensinniges Leben‘ durchzusetzen – innerhalb der bestehenden institutionellen und pädagogischen Rahmungen, aber auch oft genug gegen diese“.

Es wurde ethnografisch eingefangen, was Speisen, Räume und Möbel als ‚stumme Akteure‘ des Schulessens mit Schülerinnen und Schülern ‚machen‘ und wie sich Schülerinnen und Schüler mit ihnen arrangieren und sie kreativ ‚umnutzen‘. Eine große Rolle haben hierbei Spieltätigkeiten inne. Das Spielrepertoire ist reichhaltig und umfasst den gesamten Fundus der klassischen Kinderspiele wie Sprach-, Klatsch- und Singspiele, Fantasie- und Rollenspiele, aber auch Spiele mit Tischgegenständen und Körper- und Bewegungsspiele. Zudem wird auch das Essen selbst zur Spielressource. Es wird ausprobiert, wer wieviel in welcher Geschwindigkeit verschlingt, ob eine Kartoffel auch ohne Kauen runtergeschluckt werden kann, wann der Hähnchenknochen bricht. Speisen werden auf dem Teller ‚umgearbeitet‘, z.B. beim Zermatschen der Kartoffeln mit Ketchup, oder sie werden gänzlich ungenießbar gemacht, z.B. durch Verunreinigungen.

Mittagessen als soziale Herausforderung

Beobachtet wurden zudem die Konversation am Tisch sowie Konflikte in der Peergroup und zwischen den Generationen. Die Frage, wer wo mit wem beim Mittagessen sitzt, erweist sich als hochrelevant und gleichzeitig als diffizile Herausforderung. In kürzester Zeit müssen schließlich Tischpartner gefunden, Stühle und Tische reserviert und gleichzeitig das Essen organisiert werden – eine sozial stressende Situation, die jeden Tag neu bewältigt werden muss“. Untersucht wurde auch wie Gesundheit als normative Leitfigur des Schulessens argumentativ ‚aufgestellt‘ und was aus dieser Leitfigur im banalen Praxisalltag des Schulessens wird. So ist feststellbar, dass das Gebot des Wassertrinkens erfolgreich durchgesetzt ist, das Gemüse als Gesundheitssymbol aber zwischen den Generationen sozial umkämpft bleibt: Kinder verweigern sich, während Erwachsene sich alle Mühe geben, die Kinder davon zu überzeugen, das Gemüse zu essen.

„Betreutes Essen“ in der Grundschule

Symptomatisch sind die beiden Formate des Schulessens: Es gibt zum einen das von Erwachsenen betreute Essen an einer gemeinsamen Tafel für die Jüngeren, zum anderen das kantinenförmig organisierte Mensa-Essen für die Älteren. Das erste Format ist stark bestimmt durch das Ideal des kollektiven Mahls nach bürgerlich-familialem Vorbild. Dazu gehört das Händewaschen vor dem Essen, die gemeinsame Versammlung am Tisch, das Auftragen der Speisen in großen Schüsseln, aus denen sich die Einzelnen selbst bedienen, der gemeinsame Beginn des Verzehrs nach einem kollektiven Ritual und ein geregeltes Ende der Mahlzeit. Erwachsene überwachen hier engmaschig und relativ streng Sitte und Anstand am Tisch. Sie weisen an, mahnen, rufen zur Ruhe auf, regulieren die Konversation, sanktionieren und animieren zum Essen, wenn die aufgetischte Speise nicht schmeckt.

Die Mensa folgt demgegenüber einem individualisierteren und liberaleren Modus. Die erwachsenen Betreuungspersonen haben sich hier zurückgezogen und sichern nicht mehr wie beim betreuten Essen die Gemeinsamkeit des Essens ab. Vielmehr sind Schülerinnen und Schüler sich selbst überlassen, was die Gestaltung des Essens betrifft. Es finden sich zwar noch Essensgruppen zusammen, aber alles ist informeller. Man kommt und geht, beginnt zu essen, wenn man seinen Platz hat, steht auf, wenn man will. Auch die Manieren sind unkonventioneller: Es wird gespielt, gestritten, geärgert, gealbert, geschrien, Essen wird verschenkt, geteilt, geklaut, verunreinigt oder auf dem Teller zurückgelassen.

Jugendliche in der deregulierten „Betriebskantine“

Während bei den Jüngeren noch viel institutioneller Aufwand betrieben wird, bürgerliche Essenserziehung und ein gesittetes Mahl abzusichern, wird den Älteren ein kontrollfreier und deregulierter Essensraum zugestanden, dessen Organisationsform pragmatisch der Konsumlogistik der Betriebskantine folgt. Erzieherische Ansprüche sind hier verschwunden. Die Jüngeren erscheinen als unzivilisierte Wesen, die deshalb der strengen Führung beim Essen bedürfen. Den Älteren wird demgegenüber unterstellt, dass sie über die entsprechenden Selbststeuerungskompetenzen bereits verfügen und von daher keiner Reglementierungen beim Essen mehr bedürfen. Wobei sich die Frage stellt, ob Schule vielleicht auch einfach nur der beständigen Disziplinarprozeduren „müde“ ist und die Älteren deshalb beim Essen in die „Freiheit“ entlässt?

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden von uns in einem Buch vorgelegt. Entstanden ist eine umfassende ethnografische Sozialreportage zu den Vorgängen beim Schulessen, die nicht evaluieren, sondern schlicht erzählen will von dem, was sich an den Ausgabetheken und Tischen ereignet. Unser Anliegen ist, dafür zu sensibilisieren, dass Schulessen sehr viel mehr und anderes ist als ein nutritives Verpflegungsereignis.

Überwachen oder auf Selbstregulierung setzen?

Auch wenn die Studie keine Empfehlungen für gutes Schulessen geben will und kann, muss sie doch nachdenklich machen zu dem, wie das Schulessen heutzutage organisiert ist. Während sich alle nur darauf konzentrieren, was Schülerinnen und Schüler auf dem Teller haben, ist stärker in den Blick zu nehmen und fachlich zu diskutieren, wie die Essensvollzüge aussehen und ob das, was dort erlebt und gelernt wird, pädagogisch wünschenswert ist. Während das betreute Essen sich als ‚überreguliert‘ erweist und die Essenden einem strengen, manchmal beklemmend wirkenden Verhaltensregiment von Erwachsenen aussetzt, ist die Mensa wiederum ‚unterreguliert‘ – mit der Folge, dass es hier stellenweise zu Übergriffigkeiten und Exklusionen in der Peergroup kommt, die die Frage aufwerfen, ob hier Schule nicht mehr schützen muss.

Gleichwohl sollte auch nicht unnötig dramatisiert werden. Schülerinnen und Schüler schaffen es beim betreuten Essen trotz der Überwachung durch Erwachsene sich Räume des vergnüglichen Miteinanders und der Subversion zu bewahren. Und auch die Mensa erweist sich letztlich als ein sozial befriedeter Raum, in dem Schülerinnen und Schüler ohne Hilfe der Erwachsenen Konfliktaufbrüche rechtzeitig wieder einfangen.

Über die Autorin

Prof. Dr. Lotte Rose ist Erziehungswissenschaftlerin und seit 1997 Professorin der Frankfurt UAS am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Rose ist Mitbegründerin des erziehungswissenschaftlichen Netzwerkes "EssensPaed" und Mitglied in der DFG-Forschungsgruppe zu Fat Studies.

Was passiert beim Schulessen?

Ethnografische Einblicke in den profanen Verpflegungsalltag von Bildungsinstitutionen
Lotte Rose, Rhea Seehaus (Hrsg.)
Springer VS Verlag, Wiesbaden 2019, 284 Seiten, 39,99 €
ISBN: 978-3-658-07304-6
erschienen: 23.10.2018

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